Der Himmel hat sich langsam gedreht
In meinem Kopf singt Philipp Poisel: “Ich hab getanzt als gäb’s kein Morgen mehr. Und der Himmel hat sich langsam gedreht. Und der Himmel hat sich langsam gedreht.” Die Erde dreht sich weiter. Langsamer nur. Weltweit eingebremst. Wegen der Ausbreitung des Corona-Virus haben alle Regierungen der Welt die Notbremse gezogen.
Es ist mir unmöglich zu unterscheiden, ob sich der Himmel dreht und die Erde stehenbleibt oder der Himmel fix am Firmament steht und ich mich drehe. Ich tanze seit längerem nicht mehr. Befinde mich im Stillstand. Das öffentliche Leben existiert nicht mehr. Stagnation. Das zwischenmenschliche Leben ist reglementiert – auf Familie und Hausgemeinschaften reduziert. Für Singles bedeutet dies einen Rutsch in die unberührbare Einsamkeit. Nur noch virtuelle Kontakte sind genehm. Gruppen mit mehreren Personen gelten als potentielle Gefahr, quasi ein Virentummelplatz mit exponentiellem Wachstum. Im Lockdown sind wir weggeschlossen: von der Welt, der Schule, dem Arbeiten, dem Leben.
Bleib bei dir!
Undesinfizierte Berührungen sind tabu. Der Abstand für Nichtfamilienmitglieder ist gesetzlich vorgeschrieben. Um uns den Virus vom Leib zu halten, wird erwartet oder vorgeschrieben, dass wir zu Hause bleiben. Der Slogan #stayhome #staysafe kursiert um die Welt. Ich bleibe brav in meinen vier Wänden, die mir Schutz bieten. Und auf einmal steh ich da vor mir selbst. Unbarmherzig. Ohne Davonrennenkönnen. Ich. Mein Inneres. Mein Äußeres. Meine Auf und Abs kann ich nicht betäuben. Keine Überlagerung mit Arbeiten. Kein Run ins Fitnessstudio. Keine Shoppingtour. Kein Essengehen mit Freunden. Ich, auf mich zurückgeworfen, muss meinen Gefühlen im Körper zu hören, statt sie zu ignorieren. Anstatt mein Leben zu verändern, habe ich die Gefühle verklingen lassen und in mir konserviert. Und statt sich ungehört zu verabschieden, haben sie sich in Form von Körperschmerzen manifestiert.
Ich stehe da vor mir selbst. Meinen Fehlern. Meinen Schwächen. Meinem Schmerz. Wozu soll ich mich aufraffen und mich herausputzen, wenn mich in der Abgeschiedenheit meines Zuhauses eh keiner sieht. Ach, wozu duschen, heute spare ich das Wasser. Schminken? Für was? Einsames Frühstück im Stehen. Ohne Teller zu beschmutzen. Ich dränge mich selbst in die Ecke der Unwürdigkeit. Werde zur unsichtbaren Person in meinem eigenen Leben.
Hey Spiegel, was zeigst du mir?
Mein Selbstbild zerbröckelt im Spiegel der Erkenntnis wie alter Mörtel. Ich habe keine Lust auf diesen erbarmungslosen Blick in diesen Spiegel. Es ist mir zu viel. Der Himmel dreht sich wieder. Das Glas habe ich gefüllt und mich selbst auch. Bis über den Rand. Nein. Ich will ihn nicht spüren. Nein. Nein. Nein. Samtrot benetzt ist das Glas. Jeder Schluck, der meine Kehle herrunterrinnt, betäubt meine Wahrnehmung. Meine klare Sicht auf die Geschehnisse des Lebens löst sich auf in watteweiche Umrisse. Leise und spöttisch steigt mein Unglücklichsein zum Himmel. Und der Himmel hat sich wieder gedreht – mit jedem Schluck schneller.
Ein Gefängnis ohne Gitter
Gefangen sind wir. Gefangen in unserem Zuhause und die einzigen sich öffnenden Fenster zur Aussenwelt sind Telefonate oder – als moderne Variante – Videoanrufe. Die Konferenzanrufe aus dem Homeoffice sind der letzte Kitt zwischen den Teammitgliedern einer Abteilung und ersetzen Sitzungen oder gar Reisen um den Globus. Und dennoch bröckelt das Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein. Wir verwandeln uns zu verstummten Einzelkämpfern vor dem Laptop. Wenn ich es mir genau überlege, ist es fast gleich wie im Großraumbüro, mit dem Unterschied, dass es dort noch gemeinsame Kaffeepausen, Tratsch und eine Kantine gibt. Das Gefängnis ohne Gitter ist jetzt für jeden Menschen Alltag. In jedem Land der Welt. Als Gefangener tunke ich die Angst vor der Einsamkeit wie Cantuccini in Vin Santo, damit sie aufweichen und erträglich werden möge.
Was ist notwendig fürs Überleben?
In dem Land, in dem ich lebe, waren nach Verkündung des Lockdowns als erstes Nudeln und Klopapier ausverkauft. Jeder hamstert das, was besonders wichtig für's Überleben erscheint. Ein sauberer Popo und ein satter Bauch. Dank italienischer Pasta. Basta. Das muss reichen. Ich bin dankbar dafür, dass mir der Lockdown ziemlich deutlich gezeigt hat, was für mich der grösste Wert in dieser Krise ist. Es war mir nicht bewusst, wie sehr mir die freundschaftlichen Umarmungen und Küsschen des Alltags fehlen. Ich hätte sonst Berührungen und Körperbegegnungen vor dem Lockdown gehamstert. Hätte sie ordentlich gestapelt im Vorratsschrank aufbewahrt und bei Bedarf sparsam verwendet. Die liebevolle Begegnung mit anderen Menschen ist enorm wertvoll für mich. Mit grossen und kleinen Menschen. “Wann tust du uns kommen?”, wollte meine kleine Nichte wissen, die in einem anderen Land wohnt und noch zu klein ist, um zu verstehen was Staatsgrenzen sind. Dass diese Grenzen plötzlich zu unüberwindbaren Mauern würden, hat sich vorher niemand vorstellen können.
Reichtum und Glitzer im Leben
Meine Schatztruhe ist mein Herz. Und die Schätze, die ich darin aufbewahre, sind die Menschen, die mich im Leben begleiten. Familie, enge Freunde, entfernte Freunde, Kollegen. Alle. Einfach alle. Eure Worte, Herzlichkeit, Achtsamkeit immer wieder neu zu erleben, ist ein Geschenk. Die Begegnungen und das Feiern mit euch brauche ich immer wieder. Lebendig sein will ich, ohne Betäubung. Jedem begegnen von Herz zu Herz – manchmal ist diese Begegnung auch eine Klarstellung oder Auseinandersetzung.
Wenn der nervenzehrende Lockdown beendet ist, soll mich der Blick zu den glitzernden, diamantfunkelnden Sternen im Himmel immer daran erinnern, was der wirkliche Reichtum meines Lebens ist. Möge ich mich immer daran erinnern, selbst wenn der geschäftige Alltag mich auffressen will mit To-Do-Listen und Deadlines. Dann versehe ich alles Müssen mit Glitzerstaub und Glanz – mit Sternchen und einem Lächeln, Himmel und Musik. Und singe, tanze und denke an euch.
Himmel, wann tust du uns kommen? Himmel, dreh dich. Und nimm uns mit ins Leben.
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